Öffentliches Urinieren. ACC (nicht akut). Romeo & Julia. Tour de Force.
English version below

Heute morgen war ich auf dem Weg zu meinem Lieblingscafé in der Tegeler Straße. Ich trug mich mit dem Gedanken, dass ich heute über das Thema Willpower, also Willenskraft schreiben mag. Es war ein richtig kalter Morgen, es war nass und ich musste Pipi. Sehr dringend. Gottseidank waren es nur noch 2 Minuten Fußweg bis zur Toilette meines Vertrauens. Und wie das Leben einem dann manchmal so spielt – das Café war noch zu und mich trennten ganze 5 Minuten vom rettenden Anker der Öffnungszeit. Nie waren 5 Minuten länger als in diesem Moment. (Außer vielleicht, wenn man bei Vodafone in der Warteschleife hängt.)
//Spoiler- und Trigger-Alarm: Die nächsten sechs Paragraphen beschäftigen sich mit diversen Pinkel-Szenarien und Gedanken zum Urinieren in der Öffentlichkeit. Den Zartbesaiteten sei ein Überspringen dieser Abschnitte empfohlen.//
“Ich wollte nicht um die ganze Welt, daß sie mich hier sähen.”*
09:56. Mit forschem Schritte lief ich vor dem Café auf und ab und dachte: Es ist nicht mehr lange, 4 Minuten bis zum Glück, wir schaffen das! Nach Hause waren es 10 Minuten, das war also keine Option. Während ich so auf- und abschritt, suchte mein limbisches System bereits in Panik nach Bäumen, hinter die man sich zur Not ungesehen setzen könnte. Unnötig zu sagen, dass in Berlins Innenstadt einfach keine solchen Bäume existieren und diese Möglichkeit des gesehenen Urinierens in der Öffentlichkeit unter allen Umständen zu vermeiden und wirklich nur im aller allergrößten Notfall heranzuziehen war.
09:57. Nichts tat sich im Café, kein Zeichen von Leben, keine Seele weit und breit. Ich starrte auf das Graffiti auf den Rolläden. Mir schwante Schlimmes. In meinem fürchterlichsten Albtraum sah ich mich schon direkt vor dem Café hinter dem schutzlosesten aller Bäume sitzen, während die Mitarbeiter dort gerade die Rollläden hoch zogen – mit perfektem, 1A Ausblick auf mich, hockend, mit Pupillen geweitetem Blick wie das Reh im Scheinwerferlicht. Nein, soweit würde es nicht kommen.
09:58. Mich überkam so langsam die Absurdität der Situation: Hatte ich nicht heute über das Thema Willenskraft schreiben wollen? Wie zynisch ist bitte diese Situation, in der ich über Willenskraft schreiben will, während ich selbst mit meiner eigenen Willenskraft hadere? Meine eigene Willenskraft war auf die größte Probe gestellt. In diesem Moment fühlte es sich an wie das letzte Level eines Computerspiels, bei dem man auf den Endboss trifft. Nur, dass dieser Endboss ich selbst war und hier mein Körper gegen meinen Geist kämpfte. Oder genauer gesagt: Meine ach so prall gefüllte Blase gegen meinen Gyrus Cinguli.
09:59. Als ich mir dieser Lächerlichkeit bewusst wurde, fing ich an, ganz bewusst langsamer zu laufen, während ich mantraartig vor mich hin murmelte: You are in control, you are in control. (Kein Witz, ich spreche tatsächlich intern immer Englisch mit mir.) Schritt um Schritt. You are in control. Ein Schritt: You are. Noch ein Schritt: In control. Es schien zu helfen. Der Druck ließ nach und als die ersten anderen wartenden Gäste zu mir stießen, mag ich bereits ausgesehen haben, wie ein ganz normaler hin- und herschlendernder Gast und nicht ein wahnsinniger Saugroboter auf Steroiden, der mit weit aufgerissenen Augen und starrem Blick hin- und her sauste.
10:00. Die Rollläden wurden hochgezogen. Der rettende Hafen rückte näher. Bis die Mitarbeiterin verkündete, dass es noch 5 Minuten dauern würde, bis sie für die Öffnung bereit war. Yay. Back to square one: Gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie nicht 4000 DM ein. Mittlerweile war ich so stabil, dass die Bäume der Umgebung sich sicher sein konnten, nicht Teil eines Spektakels zu werden, das an Lächerlichkeit nicht zu überbieten war.
Ich erspare Ihnen jetzt den Rest der Geschichte, in dem ich schreiben müsste, dass die Toilette dann zu allem Überfluss nicht direkt begeh bereit war und es de facto bis 10:10 dauerte, bis ich mich dann lösen durfte (wie man so schön im Jäger-Sprech sagt)...
//Trigger-Ende//
Der ewige Kampf des Geistes gegen den Geist
Jeder von uns kennt diese Situationen. Ja, auch die der dringenden Notdurft. Was ich aber meine sind diese Situationen, in denen wir unsere Willenskraft einsetzen müssen, um Dinge zu schaffen, die gut für uns sind, die uns aber im ersten Moment sehr schwerfallen: Das kann das regelmäßige Aufraffen zum Sport sein; es kann das Ordnung Halten in der Wohnung sein (– Wo halten sich Ihre zuletzt benutzten Teller auf – in oder auf der Spülmaschine? Und Ihre Klamotten?); es kann das Zu Ende Lesen eines Buches sein; es können die täglichen 5.000, 7.000 oder 10.000 Schritte sein; das kontinuierliche Lernen für einen Lehrgang; das tägliche Schreiben, Malen, – setzen Sie hier bitte ein, was Sie sich täglich oder regelmäßig vorgenommen haben und was Konsequenz, Beständigkeit, Beharrlichkeit, Hartnäckigkeit von Ihnen erfordert (das Deutsche hat wirklich eine Vielzahl schöner Worte für diese Dinge, die alle schon so klingen als benötigte man Übermenschliches an Kraft, um sie zu auszusprechen oder gar zu bezwingen).
Willenskraft, was ist das eigentlich?
Willenskraft ist im Wesentlichen die Fähigkeit, kurzfristige Bedürfnisse zugunsten langfristiger Ziele zu kontrollieren. Der Anteriore Cinguläre Cortex (ACC; genauer eigentlich der Anteriore Mid-Cinguläre Cortex, für die, die es genau wissen wollen) als Teil des limbischen Systems in unserem Gehirn ist dabei wie ein "Kontrollzentrum", das uns hilft, Entscheidungen bewusst zu treffen, Emotionen zu regulieren und auf Kurs zu bleiben, selbst wenn es anstrengend wird.
Wenn wir uns zum Beispiel selbst zwingen, das Strategiepapier fertig zu schreiben (obwohl es doch auf Instagram bestimmt ganz viele spannende und wichtige Ablenkungen gibt) oder doch eine Stunde joggen zu gehen (obwohl das bei -1 Grad fast schon an Körperverletzung grenzt), arbeitet der ACC auf Hochtouren: Er erkennt den inneren Konflikt (z. B. "Aufgabe vs. Ablenkung"), steuert die Aufmerksamkeit auf die Aufgabe und unterdrückt die Versuchung, etwas anderes zu tun. Gleichzeitig signalisiert er, dass das Durchhalten wichtig ist, um das Ziel zu erreichen. “Heute aufgeben? Sich womöglich der Faulheit und dem Nichtstun hingeben? Schon wieder Instagram oder Netflix? Nicht mit mir!” Ein Wahnsinns-Ding, dieser ACC!
Quäl dich, du Sau: Channeln Sie Ihren inneren Udo Bölts
Nun gibt es aber etwas Wichtiges dabei zu wissen: Wenn wir gerne Strategiepapiere schreiben oder gerne joggen gehen, ist der ACC überhaupt nicht aktiv – er kommt gar nicht zum Einsatz. Er ist immer nur dann beteiligt, wenn wir uns intern sagen müssen: “Quäl dich, du Sau” – einer der bekanntesten Sprüche der Radsportgeschichte: Jan Ullrich liegt 1997 bei der Tour de France hinten und schwächelt bedenklich, als ihn sein Teamkollege und Edelhelfer Udo Bölts vom Rad aus hilfreich anbrüllt. Und wir alle haben diesen Udo Bölts in uns, in unserem Gehirn. Naja, manche haben ihn vielleicht auch nicht. Schauen wir uns das genauer an.
Silas und der Bußgürtel
Es gibt Menschen, die haben einen ganz kleinen – und Menschen, die haben einen ganz großen ACC. Er spiegelt die Fähigkeit wider, wie erfolgreich wir uns in unserem Leben gequält haben – durch all die Tage ohne Bock auf Sport, in denen wir trotzdem los gegangen sind; durch die Tage des Lernens auf die Prüfung, auch wenn wir den Stoff schon lange nicht mehr sehen konnten. Der ACC ist im Prinzip die Repräsentanz der Selbst-Kasteiung, wie der qualvolle Bußgürtel mit den Dornen, die Silas ins Bein schneiden, im Film Da Vinci Code. Wie sehr können Sie diesen Bußgürtel zuziehen? Wie oft haben Sie ihn schon zugezogen im Leben?
Wollen Sie ein langes Leben? Ziehen Sie fester!
Mehr und mehr häufen sich die Befunde, dass dieser Bereich in unserem Gehirn nicht nur die Willenskraft widerspiegelt, die wir für die Überwindung nerviger Dinge benötigen. Sondern dass dort auch das Zentrum sitzt für ein langes Leben. Genau, richtig gehört: Die gleiche Struktur, die uns zum Schlagzeugunterricht führt, wenn uns das heute “so gar nicht catcht”, bringt uns auch ein langes Leben, einfach dadurch, dass sie uns sagt: “Was, heute tot sein? Ne, da mach ich nicht mit. Wir geben heute noch nicht auf. Nicht mit mir. Veto!”
Wir müssen also für ein langes Leben unseren Bußgürtel ein bisschen fester ziehen – oder uns überhaupt erstmal einen anschaffen, falls wir das bislang versäumt haben. Das geht übrigens wesentlich schneller als same-day Delivery bei Amazon: Machen Sie doch einfach etwas, worauf Sie so gar keinen Bock haben! Was wir davon haben, ist sehr klar: Nachhaltigkeit und Erfolg in den mühevollen Dingen (die uns am Ende sehr stolz machen können); Impulskontrolle, Selbstregulation (Verstärker- oder Belohnungsaufschub würde der Psychologe sagen) – und last, but not least: ein langes Leben. Gar nicht schlecht so ein ACC, oder?
Wer jetzt neugierig geworden ist, wie man denn diesen Lebensverlängerer im Gehirn gezielt massieren kann, schaut sich den Beitrag von Andrew Huberman auf Englisch hier an: How to Increase Your Willpower & Tenacity | Huberman Lab Podcast
*verunglimpft aus der berühmten Balkonszene zwischen Shakespeares Julia und ihrem Romeo (im Original: “Ich wollte nicht um die ganze Welt, daß sie dich hier sähen.”)
"Push Yourself, You Pig!" – The Capacity to Torture Yourself
Public Urination. ACC (not akut). Romeo & Juliet. Tour de Force.
This morning, on my way to my favorite café on Tegeler Straße, I was pondering writing about willpower. It was a brutally cold morning, wet, and—most urgently—I needed to pee. Badly. Thank goodness the toilet of my trusted café was only two minutes away. But, as life sometimes plays its tricks on you, the café was still closed, leaving me five long minutes away from the salvation of its opening. Never have five minutes felt longer (except perhaps when stuck in Vodafone’s customer service hotline).
//Spoiler and trigger alert: The following six paragraphs revolve around various peeing scenarios and thoughts on public urination. Those with delicate sensibilities are advised to skip ahead.//
"I'd give the world to make sure they do not see me here"*
9:56 AM. I marched briskly back and forth in front of the café, thinking, "Just a little longer, four minutes to happiness—we can do this!" Going home wasn’t an option—it was ten minutes away. While I paced, my limbic system panicked, scanning for trees to crouch behind if the need became desperate. Needless to say, central Berlin offers no such trees, and the possibility of being seen peeing in public was a nightmare scenario to be avoided at all costs.
9:57 AM. The café showed no signs of life, not a soul in sight. I stared at the graffiti on the shutters, sensing doom. In my worst nightmare, I saw myself crouched behind the most inadequate tree imaginable as the café staff lifted the shutters, granting themselves a prime view of me in all my deer-in-headlights glory. No, it wouldn’t come to that.
9:58 AM. The absurdity of the situation struck me: Hadn’t I intended to write about willpower today? How ironic to be contemplating willpower while battling my own! My willpower was being put to the ultimate test. This felt like the final level of a video game, facing the end boss. Except the end boss was me, and it was my body versus my mind. Or more precisely: my bursting bladder versus my cingulate gyrus.
9:59 AM. Realizing the ridiculousness of it all, I began walking deliberately slower, muttering a mantra: You are in control. You are in control. (No joke, I always talk to myself internally in English.) Step by step: You are... Another step: ...in control. It seemed to help. The pressure eased, and by the time other customers joined me, I probably looked like a normal, casual guest, not a crazed robotic vacuum on steroids, darting back and forth with wide eyes and a frantic stare.
10:00 AM. The shutters finally rolled up. Salvation was near—until the staff announced it would take five more minutes to be ready to open. Yay. Back to square one: Do not pass Go. Do not collect $200. By now, I was stable enough that the trees could rest easy; they wouldn’t bear witness to a spectacle of unparalleled absurdity.
I’ll spare you the rest of the story, which involved the restroom not being immediately ready, meaning it was 10:10 AM before I could finally relieve myself (as hunters so eloquently put it)...
//End of trigger alert//
The Eternal Battle: Mind vs. Mind
We’ve all faced situations like this. Yes, even the urgent bathroom kind. But I’m really talking about situations where we must summon willpower to do things that are good for us yet feel difficult in the moment: dragging ourselves to exercise; keeping our homes tidy (– where are your last-used plates—in or on the dishwasher? And your clothes?); finishing a book; hitting 5,000, 7,000, or 10,000 daily steps; consistently studying for a course; or pursuing daily habits like writing or painting. Insert here whatever you’ve resolved to do regularly—tasks requiring persistence, consistency, and tenacity (German offers a wealth of robust words for these traits, all of which sound as if they require Herculean effort just to pronounce, let alone embody: Konsequenz, Beständigkeit, Beharrlichkeit, Hartnäckigkeit).
What is willpower, anyway?
Willpower is essentially the ability to control short-term impulses in favor of long-term goals. The anterior cingulate cortex (ACC—or, more precisely, the anterior mid-cingulate cortex, for the detail-oriented) in the limbic system acts as a "control center," helping us make conscious decisions, regulate emotions, and stay on course, even when the going gets tough.
For instance, when we force ourselves to finish writing a strategy paper (despite Instagram offering countless enticing distractions) or head out for a run (despite the -1°C chill bordering on bodily harm), the ACC kicks into high gear. It recognizes the internal conflict (e.g., “task vs. distraction”), directs attention to the task, and suppresses the temptation to do something else. At the same time, it signals that persevering is crucial for achieving the goal. "Give up today? Indulge in laziness and idleness? Scroll Instagram again? Not on my watch!" A remarkable little thing, this ACC.
"Push Yourself, You Pig!" Channel Your Inner Udo Bölts
However, here’s an important note: If we enjoy writing strategy papers or running, the ACC doesn’t activate—it’s not needed. It only gets involved when we have to internally say: "Push yourself, you pig!"—one of the most famous lines in cycling history. In 1997’s Tour de France, Jan Ullrich was struggling and falling behind when his teammate, Udo Bölts, yelled this “encouragement” at him from his bike. And we all have an inner Udo Bölts in our brains. Well, maybe not all of us. Let’s dig into this.
Silas and the Cilice
Some people have a tiny ACC; others, a large one. It reflects how successfully we’ve pushed through life’s difficulties—those days when we exercised despite not feeling like it; those hours spent studying for exams even when the material bored us to tears. The ACC essentially represents self-discipline, much like the painful cilice with sharp spikes cutting into Silas’s leg in The Da Vinci Code. How tight can you pull that cilice? How often have you tightened it in your life?
Want to live longer? Tighten it more!
Increasingly, research suggests that this brain region doesn’t just reflect the willpower needed to tackle annoying tasks—it also plays a role in longevity. That’s right: the same structure that drags us to drum lessons when we “just aren’t feeling it today” also helps us live longer, simply by saying, "What, die today? No way. Not happening. We’re not giving up. Not on my watch. Veto!"
So, if you want to live a long life, tighten that cilice—or get one if you haven’t already. That’s actually much faster than same-day delivery on Amazon: Just do something you absolutely don’t feel like doing! The rewards are clear: sustainability and success in tough endeavors (which can ultimately make us proud), impulse control and self-regulation (a psychologist would call this delayed gratification), and, last but not least, longevity. Not bad, this ACC, is it?
Curious about how to train this life-extending brain region? Check out Andrew Huberman’s podcast: How to Increase Your Willpower & Tenacity | Huberman Lab Podcast
*Parodied from the famous balcony scene between Shakespeare's Juliet and her Romeo (original: "I'd give the world to make sure they do not see you here")
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